„Annie Murphy Paul: Was wir vor unserer Geburt lernen“

„Die Stimmen, die Föten hören können, ungefähr ab dem vierten Schwangerschaftsmonat, sind gedämpft und undeutlich. […] Aber die Stimme der schwangeren Frau resoniert durch ihren Körper und erreicht den Fötus viel einfacher. […] Nach der Geburt“…

„Annie Murphy Paul: Was wir vor unserer Geburt lernen“
Lernen beginnt schon lange vor der Geburt…

Mit deutschen Untertiteln - „Annie Murphy Paul: Was wir vor unserer Geburt lernen“ (Ted-Talk - CC BY–NC–ND 4.0 International)

Transkript: Übersetzerin: Sabine Hogg, Lektorat: Lex Asobo - (CC BY–NC–ND 4.0 International)

00:00 Mein Thema heute heißt Lernen Und dazu möchte ich gern hier und jetzt einen kleinen Test mit Ihnen machen. Sind Sie bereit? Wann beginnt Lernen? Jetzt beginnen Sie zu überlegen: Vielleicht denken Sie an den ersten Vorschultag, oder an den Kindergarten; an den ersten Schultag im Klassenzimmer mit dem Lehrer. Oder Ihnen fällt dazu das Krabbelalter ein, wenn Kinder laufen und sprechen lernen, und wie man eine Gabel benutzt. Vielleicht kennen Sie die Theorie über frühkindliches Lernen mit der Behauptung, dass die wichtigsten Lernjahre die frühesten sind. Daher wäre die Antwort auf meine Frage: Lernen beginnt mit der Geburt.
00:41 Nun, heute möchte ich Sie mit einer Idee bekannt machen, die Sie vielleicht überraschen wird, und die vielleicht sogar unglaubwürdig erscheint, die aber durch neueste Beweise der Psychologie und Biologie befürwortet wird. Demnach lernen wir einige der wichtigsten Dinge in unserem Leben bevor wir geboren werden, noch im Mutterleib. Nun, ich bin wissenschaftliche Journalistin, ich schreibe Bücher und Artikel in Zeitschriften. Und ich bin auch Mutter. Und für mich verschmolzen diese beiden Rollen in meinem Buch "Origins" (Ursprünge). "Origins" berichtet von den neuesten Erkenntnissen in einem aufregenden neuen Gebiet genannt "Fötale Ursprünge". Fötale Ursprünge ist eine wissenschaftliche Disziplin, die vor knapp 20 Jahren entstand und auf der Theorie basiert, dass unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden unser Leben lang entscheidend beeinflusst werden durch die neun Monate, die wir im Mutterleib verbringen. Nun, diese Theorie interessierte mich nicht nur auf Papier. Ich war selbst schwanger, während ich für mein Buch recherchierte, und einer der faszinierendsten Einblicke, die ich aus dieser Arbeit gewann, ist, dass wir alle bereits über unsere Welt lernen, noch bevor wir auf diese Welt kommen.
01:57 Wenn wir unser Baby zum ersten Mal im Arm halten, sehen wir vielleicht ein unbeschriebenes Blatt, noch ungezeichnet von dieser Welt, und doch sind sie bereits geformt, durch uns und die Umgebung, in der wir uns befinden. Heute möchte ich Ihnen einige der fantastischen Dinge zeigen, die Wissenschaftler entdeckt haben über Föten, und was sie lernen, während sie sich noch in den Bäuchen ihrer Mütter befinden.
02:21 Zuallererst lernen sie die Stimmen ihrer Mütter. Geräusche von ausserhalb des Leibs übertragen sich durch das Bauchgewebe der Mutter und durch das Fruchtwasser, in dem sich der Fötus befindet. Die Stimmen, die Föten hören können, ungefähr ab dem vierten Schwangerschaftsmonat, sind gedämpft und undeutlich. Einer der Forscher meinte, sie klingen wohl ähnlich wie die Stimme des Lehrers von Charlie Brown aus der gleichnamigen Zeichentrickserie. Aber die Stimme der schwangeren Frau resoniert durch ihren Körper und erreicht den Fötus viel einfacher. Und weil der Fötus immer bei ihr ist, hört er ständig ihre Stimme. Nach der Geburt erkennt das Baby ihre Stimme und hört diese Stimme lieber als alle anderen.
03:12 Wie können wir das wissen? Neugeborene können nicht viel machen, aber sie können ausgezeichnet nuckeln. Forscher nutzen diese Fähigkeit und konstruieren zwei künstliche Brustwarzen. Wenn das Baby an einer nuckelt, hört es die aufgezeichnete Stimme seiner Mutter über Kopfhörer, und wenn es an der anderen Brustwarze nuckelt, hört es die aufgezeichnete Stimme einer fremden Frau. Babys zeigen schnell ihre Vorliebe, indem sie die erste wählen. Wissenschaftler nutzen auch die Tatsache, dass Babys langsamer nuckeln, wenn etwas ihr Interesse geweckt hat. und sie nuckeln wieder schneller, wenn ihnen langweilig wird. Auf diese Weise haben Forscher entdeckt dass, nachdem Frauen während der Schwangerschaft wiederholt und laut einen Abschnitt aus Dr. Seuss' Buch "Ein Kater macht Theater" gelesen haben, ihre Neugeborenen diesen Abschnitt erkannten, als sie ihn ausserhalb des Mutterleibs hörten. Mein Lieblingsversuch auf diesem Gebiet zeigt, dass Babys von Frauen, die jeden Tag während der Schwangerschaft eine bestimmte Fernsehserie gesehen haben, die Titelmelodie aus dieser Serie erkannten nachdem sie geboren waren. Föten lernen also sogar die bestimmte Sprache, die gesprochen wird in der Welt, in die sie hinein geboren werden.
04:33 Eine im letzten Jahr veröffentlichte Studie ergab, dass von Geburt an, vom Moment der Geburt an, Babys im Tonfall der Muttersprache ihrer Mütter schreien. Französische Babys schreien in aufsteigendem Ton, deutsche Babys enden mit abfallendem Ton, und sie imitieren dabei die Betonungsmuster dieser Sprachen. Nun, warum sollte dieses fötale Lernen von Nutzen sein? Seine Entstehung könnte dem Überleben des Babys dienen. Vom Moment der Geburt an reagiert das Baby hauptsächlich auf die Stimme der Person, die sich wahrscheinlich am meisten um es kümmern wird: Seine Mutter. Es schreit sogar in Tönen, die der Muttersprache ähneln, was wohl somit auch an den Mutterinstinkt appelliert und es dadurch dem Baby etwas einfacher macht bei der schwierigen Aufgabe, verstehen und sprechen zu lernen in der Muttersprache.
05:25 Es sind aber nicht nur Geräusche, die die Föten im Mutterleib erlernen, sondern auch Geschmack und Geruch. Im siebten Schwangerschaftsmonat sind die Geschmacksknospen des Fötus vollständig entwickelt, und die Geruchsempfänger zum Riechen sind funktionsfähig. Die Aromen der Nahrungsmittel, die die Schwangere zu sich nimmt, gelangen ins Fruchtwasser, das vom Fötus ständig aufgenommen wird. Babys scheinen diese Geschmäcker zu erkennen und bevorzugen, nachdem sie auf die Welt gekommen sind. In einem Experiment wurde eine Gruppe Schwangerer gebeten, eine größere Menge Möhrensaft im dritten Schwangerschaftstrimester zu trinken, während eine andere Gruppe schwangerer Frauen lediglich Wasser trank. Sechs Monate später wurde den Babys ein Brei mit Möhrensaft angeboten und der Gesichtsausdruck beim Essen beobachtet. Die Babys der Mütter, die Möhrensaft getrunken hatten, aßen mehr von dem Brei mit Möhrengeschmack und vom Ausdruck her schien es, als ob sie es lieber mochten.
06:26 Eine französische Variante dieses Experiments wurde in Dijon in Frankreich durchgeführt. Forscher fanden heraus dass Mütter, die während der Schwangerschaft Lebensmittel und Getränke mit Anis zu sich nahmen, das nach Lakritz schmeckt, bevorzugten Anis am ersten Lebenstag, und wiederum bei einem weiteren Test am vierten Lebenstag. Babys von Müttern, die kein Anis in der Schwangerschaft gegessen hatten, reagierten mit einem Ausdruck, der in etwa mit "Igitt" übersetzt werden kann. Das bedeutet, dass Föten tatsächlich von ihren Müttern lernen, was gut und sicher gegessen werden kann. Föten lernen auch über die Kultur, in die sie hineingeboren werden, durch eins der prägnantesten kulturellen Erkennungsmerkmale, dem des Essens. Sie lernen die charakteristischen Aromen und Gewürze ihrer Landesküche kennen, noch bevor sie geboren werden.
07:22 Jetzt ist klar gworden, dass Föten noch mehr lernen. Aber bevor ich dazu komme, möchte ich noch etwas zu dem sagen, was Sie sich vielleicht gefragt haben. Das Konzept des Fötalen Lernens hat Sie vielleicht auf die Idee gebracht, den Fötus anzuregen - zum Beispiel mit Mozartklängen über Kopfhörer auf dem Bauch der werdenden Mutter. Aber die neunmonatige Entwicklung, das Formen und Prägen im Mutterleib, ist viel viszeraler und folgenreicher als das. Vieles, was die werdende Mutter tagtäglich erlebt - die Luft, die sie atmet, was sie isst und trinkt, die Chemikalien, denen sie ausgesetzt ist, sogar die Gefühle, die sie erlebt - an allem nimmt der Fötus in irgendeiner Weise teil. Es entsteht eine Mischung von Einflüssen, die so individuell und eigenartig sind, wie die Frau selbst. Der Fötus übernimmt diese Eindrücke in seinen eigenen Körper und sie gehen in sein Fleisch und Blut über. Und noch etwas anderes passiert oft. Es behandelt diese mütterlichen Beiträge als Information. Ich nenne es eine biologische Postkarte von der Außenwelt.
08:31 Also, was ein Fötus im Mutterleib lernt ist nicht Mozarts "Zauberflöte" sondern Antworten auf viel wichtigere Fragen des Überlebens. Wird es geboren in eine Welt des Reichtums oder des Mangels? Wird es sicher sein und beschützt, oder ständiger Gefahr und Drohung ausgesetzt sein? Wird es ein langes, erfülltes Leben haben, oder ein kurzes, qualvolles? Die Ernährung der werdenden Mutter und besonders ihr Stresslevel sind wichtige Anzeichen für die herrschenden Bedingungen, als wenn man mit dem Finger die Windrichtung prüft. Die daraus folgende Abstimmung und Anpassung des Gehirns und anderer Organe des Fötus sind Teil der enormen Flexibilität von uns Menschen, unsere Fähigkeit zum Gedeihen in einer Vielzahl verschiedener Lebensumstände, sei es Stadt oder Land, Tundra oder Wüste.
09:22 Zum Abschluss möchte ich Ihnen zwei Geschichten erzählen wie Müttern ihren Kindern die Welt beibringen noch bevor sie geboren sind. Im Herbst 1944, der dunkelsten Zeit des Zweiten Weltkriegs, barrikadierten deutsche Truppen den Westen Hollands, indem sie alle Lebensmittellieferungen blockierten. Der Beginn der Nazibelagerung wurde gefolgt von einem der härtesten Winter in Jahrzehnten - es war so kalt, dass die Kanäle völlig zufroren. Bald wurden die Lebensmittel knapp, viele Holländer überlebten mit nur 500 Kalorien pro Tag - ein Viertel von dem, was sie vor dem Krieg zu sich genommen hatten. Aus Wochen der Entbehrung wurden Monate, und manche begannen, Tulpenzwiebeln zu essen. Anfang Mai waren die sorgsam rationierten Lebensmittelreserven völlig erschöpft. Eine Hungersnot drohte. Und dann, am 5. Mai 1945, fand die Belagerung ein plötzliches Ende als Holland befreit wurde durch die Alliierten.
10:24 Im "Hungerwinter", wie er seither genannt wird, starben rund 10.000 Menschen, und er schwächte und entkräfteteTausende mehr. Aber noch eine Bevölkerungsgruppe war betroffen - die 40.000 Föten, die während der Belagerung ausgetragen wurden. Einige Auswirkungen der Unterernährung während der Schwangerschaft waren sofort erkennbar in den erhöhten Zahlen der Totgeburten, Missbildungen bei Neugeborenen, niedrigem Geburtsgewicht und Säuglingssterblichkeit. Andere wurden erst nach Jahren entdeckt. Jahrzehnte nach dem "Hungerwinter" belegten Forscher, dass Menschen, deren Mütter während der Belagerung schwanger waren, mehr an Übergewicht, Diabetes und Herzerkrankungen in späteren Jahren litten als Menschen, die unter normalen Bedingungen ausgetragen worden waren. Die prenatale Erfahrung des Hungerleidens dieser Personen scheint ihre Körper auf unzählige Weise beeinflusst zu haben. Sie haben höheren Blutdruck, einen schlechteren Cholesterinspiegel, und eine geringere Glukosetoleranz - eine Vorstufe von Diabetes.
11:25 Warum sollte Unterernährung im Mutterleib zu späterer Krankheit führen? Eine Erklärung ist, dass Föten das Beste aus einer schlechten Lage machen. Wenn Nahrung knapp ist leiten sie die Nährstoffe zum wichtigsten Organ, dem Gehirn, und weg von anderen Organen wie Herz und Leber. Das hält den Fötus auf kurze Sicht am Leben, hat aber nachteilige Folgen im späteren Leben wenn die anderen, vernachlässigten Organe anfälliger für Krankheiten werden.
11:54 Das ist aber womöglich noch nicht alles. Föten scheinen sich nach der intrauterinen Umgebung zu richten und ihre Physiologie entsprechend auszurichten. Sie bereiten sich auf ihre Lebenswelt vor, die außerhalb der Gebärmutter auf sie wartet. Der Fötus passt seinen Stoffwechsel und andere physiologische Prozesse an die Umgebung an, die ihn erwartet. Und die Grundlage für die Prognosen des Fötus ist die Nahrung, die die Mutter zu sich nimmt. Die Mahlzeiten einer werdenden Mutter bilden eine Art Geschichte, ein Märchen des Überflusses oder eine düstere Chronik der Entbehrung. Diese Geschichte enthält Informationen die der Fötus nutzt, um seinen Körper und dessen Funktionen aufzubauen - eine Anpassung an die herrschenden Umstände, die sein zukünftiges Überleben ermöglichen. Angesichts stark eingeschränkter Ressourcen hat ein kleiner gebautes Kind mit geringerem Nährstoffanspruch tatsächlich eine bessere Chance, das Erwachsenenalter zu erreichen.
12:55 Die eigentlichen Probleme entstehen, wenn Schwangere sozusagen unzuverlässige Erzähler sind, wenn Föten annehmen müssen dass eine Welt des Mangels auf sie wartet und sie stattdessen in eine Welt der Fülle geboren werden. Dies geschah mit den Kindern des holländischen "Hungerwinters", und die erhöhten Zahlen an Übergewicht, Diabetes und Herzerkrankungen sind das Ergebnis. Körper die so konzipiert waren, dass sie jede Kalorie speichern, badeten nun in den überzähligen Kalorien der reichhaltigen Nachkriegskost. Die Welt, die sie im Mutterleib kennengelernt hatten war nicht mehr die gleiche, in die sie jetzt hineingeboren waren.
13:32 Hier ist noch eine andere Geschichte. Am 11. September 2001, um 8.46 morgens, befanden sich zehntausende Menschen in der Nähe des World Trade Centers in New York - Pendler strömten aus den Zügen, Kellnerinnen deckten die Tische für den morgendlichen Andrang, Finanzmakler in der Wall Street hingen bereits an den Telefonhörern. 1.700 dieser Menschen waren schwangere Frauen. Als die Flugzeuge einschlugen und die Türme einfielen, empfanden viele dieser Frauen den gleichen Horror wie andere Überlebende dieser Katastrophe - das unermessliche Chaos und Durcheinander, die undurchdringlichen Wolken von Schutt und möglicherweise giftigem Staub, die beklemmende Angst ums Überleben.
14:15 Ungefähr ein Jahr nach dem Ereignis vom 9. September 2001 untersuchten Forscher eine Gruppe von Frauen, die schwanger gewesen waren als sie den Angriff auf das World Trade Center erlebten. In den Babys dieser Frauen, die das posttraumatische Stresssyndrom PTSD nach diesem traumatischen Erlebnis entwickelten, fanden Forscher einen Biomarker, oder Indikator, für die Anfälligkeit, PTSD zu entwickeln - ein Ergebnis, das besonders deutlich war in Kleinkindern, deren Mütter die Katastrophe während des dritten Schwangerschaftstrimesters erlebten. Mit anderen Worten, die Mütter mit posttraumatischem Stresssyndrom hatten die Anfälligkeit für diesen Zustand an ihre Kinder in der Gebärmutter weitergegeben.
14:55 Jetzt bedenken Sie einmal: Das posttraumatische Stresssyndrom ist, wie es scheint, eine schlimme Fehlreaktion auf Stress, die ihren Opfern furchtbar viel unnötiges Leiden zufügt. Man kann PTSD aber auch mit anderen Augen sehen. Was für uns wie ein Krankheitsbild aussieht ist möglicherweise ein nützliches Anpassungsvermögen in manchen Situationen. In einer besonders gefährlichen Umgebung können die charakteristischen Merkmale von PTSD - eine überdeutliche Wahrnehmung der Umgebung, eine superschnelle Reaktion auf Gefahr - jemandem das Leben retten. Die Idee, dass die prenatale Übertragung des PTSD-Risikos anwendbar ist, ist noch Theorie, für mich aber eine sehr überwältigende. Es würde bedeuten, dass noch vor der Geburt Mütter ihre Kinder warnen vor einer wilden Welt da draußen und ihnen sagen: "Sei vorsichtig".
15:49 Lassen Sie mich deutlich machen: Die Forschungen über Fötale Ursprünge geben nicht den Frauen die Schuld für das, was während der Schwangerschaft passiert. Es geht darum festzustellen, wie man am besten die Gesundheit und das Wohlergehen der nächsten Generation fördert. In diesem wichtigen Bestreben muss man sich auch auf das konzentrieren was Föten lernen während ihrer neun Monate im Mutterleib. Lernen ist eine der wichtigsten Aufgaben im Leben und beginnt viel früher als wir jemals gedacht hätten. 16:16 Danke. 16:18 (Applaus)

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